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Die letzte Fahrt

Schwierige Situationen offenbaren das menschliche Herz.

Extremer finanzieller Druck, der Zerbruch einer Beziehung oder der Verlust eines geliebten Menschen. Tiefe Lebenskrisen; sie können einem sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegziehen. Für einen anderen sind diese Herausforderungen die Möglichkeit, die Macht Gottes in seinem Leben unter Beweis zu stellen. Sie schauen von sich weg. Auf die Optionen und Möglichkeiten, die Gott nutzt, um uns zu verändern. Doch was macht den Unterschied? Alles entscheidet sich an dieser einen inneren Einstellung: unserer Ichbezogenheit.

 

Ich las neulich eine sehr berührende Geschichte, die ich gerne mit dir teilen möchte. Diese schlichte Begebenheit wurde von einem Taxifahrer aus New York verfaßt. Die Quintessenz, die sich daraus für mein und möglicher Weise auch dein Leben ergibt, muss nicht weiter erläutert werden – lies einfach selbst:

"Seit fast 28 Jahren fahre ich Taxi in New York. Neulich wurde ich zu einer Adresse bestellt und wie gewöhnlich hupte ich, als ich dort ankam. Doch kein Fahrgast erschien. Niemand war zu sehen. Ich hupte erneut. Nichts. Noch einmal. Nichts. Meine Schicht war fast zu Ende. Dies war eigentlich meine letzte Fahrt für heute. Ich wollte endlich wieder einmal pünktlich zu Hause sein. Es wäre so leicht gewesen, jetzt einfach wieder wegzufahren.

 

Ich entschied mich jedoch dagegen, parkte mein Taxi und ging zur Haustür. Kaum hatte ich geklopft, sprach eine alte gebrechliche Stimme zu mir:

„Bitte, einen Augenblick noch!“

Durch die Tür hörte ich, dass offensichtlich etwas über den Fußboden geschleift wurde.

Es verging eine Weile, bis sich endlich die Tür öffnete. Vor mir stand eine kleine zerbrechliche alte Dame, bestimmt 90 Jahre alt. Sie trug ein mit Blümchen bedrucktes Kleid und einen dieser Pillbox Hüte mit Schleier, die man früher immer getragen hat. Ihre gesamte Erscheinung sah so aus, als wäre sie aus einem Film der 1940er Jahre entsprungen. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Nylonkoffer. Da die Tür offen stand, konnte ich nun auch ein paar Blicke in die Wohnung werfen. Diese sah aus, als hätte hier über Jahre hinweg niemand mehr gelebt. Alle Möbel waren mit Tüchern abgedeckt. Die Wände waren kahl und leer – keine Uhren, keine Bilder. Es sah gespenstig aus – keine Deko, kein Geschirr, nur etwas weiter hinten, in der Ecke im Flur sah ich etwas stehen. Einen Karton, der wohl mit Photos und irgendwelchen Gläsern und Porzelanfiguren gefüllt war.

 

„Bitte, junger Mann, tragen sie mir meinen Koffer zum Wagen?“ fragte sie leise. Ich nahm den Koffer und packte ihn in den Kofferraum. Dann ging ich zurück zu der alten Dame, um ihr beim Gang zum Auto zu helfen. Sie nahm meinen Arm und wir gingen gemeinsam in Richtung Bürgersteig. Sie bedankte sich für meine Hilfsbereitschaft. „Nicht der Rede wert“ antwortete ich ihr, „Ich behandle meine Fahrgäste schlicht genauso, wie ich auch meine Mutter behandeln würde!“ „Oh, sie sind wirklich ein vorbildlicher junger Mann.“ erwiderte sie.

Als die Dame in meinem Taxi platz genommen hatte, gab sie mir die Zieladresse, gefolgt von der Frage, ob wir denn nicht bitte durch die Innenstadt fahren könnten. „Nun, das ist aber nicht der kürzeste Weg, eigentlich sogar ein erheblicher Umweg“, gab ich zu bedenken. Das kann teuer werden. „Oh, ich habe nichts dagegen", sagte sie. „Ich bin nicht in Eile. Dies ist wohl meine letzte Fahrt. Ich bin auf dem Weg ins Hospiz.“ „Ein Hospiz?“ schoss es mir durch den Kopf. Scheiße, Mann! Dort werden doch nur sterbenskranke Menschen untergebracht, die man auf ihrem Sterbeweg begleitet. Ich schaute in den Rückspiegel, sah mir die Dame vorsichtig und unbemerkt etwas genauer an. „Ich hinterlasse keine Familie“, fuhr sie mit leiser Stimme fort. „Der Arzt sagt, ich habe nicht mehr sehr lange.“

Ich schaltete das Taxameter aus.

„Welchen Weg soll ich nehmen?“ fragte ich.

 

Für die nächsten Stunden fuhren wir einfach durch die Stadt. Sie zeigte mir das Hotel, indem sie einst an der Rezeption gearbeitet hatte. Wir fuhren zu den unterschiedlichsten Orten. Sie zeigte mir das verlassene und leerstehende Haus, indem sie und ihr verstorbener Mann gelebt hatten, als sie noch „ein junges, wildes Paar“ waren. Wir fuhren zu dem einst modernen Möbelhaus, dass noch viel früher „ein angesagter Schuppen“ für Musik und Tanz war. Als junges Mädchen habe sie dort oft ganz ausgelassen und bis in den frühen Morgen hinein das Tanzbein geschwungen.

 

 

An manchen Gebäuden vorbei und durch manche Straßen bat sie mich besonders langsam zu fahren. Sie sagte dann nichts. Sie schwieg und schaute einfach nur aus dem Fenster und es schien, als gingen ihre Gedanken noch einmal auf eine lange Reise. Eine Reise, die wohl bis tief in ihre Vergangenheit reichte. 

 

Ich bemerkte plötzlich, dass sich der Horizont langsam erhellte. Waren wir tatsächlich die ganze Nacht durch die Stadt gefahren?

 

„Ich bin müde“, sagte die alte Dame plötzlich.

„Wir können jetzt umkehren und zu meinem eigentlichen Ziel fahren.“

Schweigend fuhren wir zu der Adresse, die sie mir am Abend gegeben hatte. Das Hospiz hatte ich mir viel größer vorgestellt. Mit seiner Mini-Einfahrt wirkte es eher wie ein kleines freundliches Ferienhaus. Jedoch stürmte kein geschäftstüchtiger Makler aus dem Gebäude, sondern zwei stattliche Sanitäter die, kaum hatte ich den Wagen angehalten, die Fahrgasttür öffneten. Sie schienen sehr besorgt zu sein. Kein Wunder. Vermutlich hatten sie schon sehr lange auf die Ankunft der Dame gewartet.

 

Und während die alte Dame im Rollstuhl platz nahm, trug ich ihren Koffer zum Eingang des Hospiz.

„Wie viel bekommen sie von mir für die Fahrt?“ fragte sie, während sie in ihrer Handtasche kramte.

„Nichts“, sagte ich,

„Sie müssen doch ihren Lebensunterhalt verdienen«, antwortete sie.

„Es gibt noch andere Passagiere“, erwiderte ich mit einem Lächeln.

Und ohne lange drüber nachzudenken drehte ich mich ganz zu ihr, beugte mich herunter und umarmte sie. Und sie hielt mich ganz fest an sich. „Sie haben einer alten Frau auf ihren letzten Metern noch ein klein wenig Freude und ein paar glückliche Stunden geschenkt. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit“, sagte sie mit glasigen Augen. Im selben Augenblick fuhr der Sanitäter mit ihr zum Ende des Flures. Ich lies ihre Hand los und schaute ihr nach. Dann ging ich dem trüben Sonnenaufgang entgegen zurück zu meinem Taxi. Hinter mir schloss sich die Tür des Hospiz. Der dumpfe Klang fühlte sich für mich an, wie das letztmalige Schließen einer schweren Holzkiste.

 

Meine nächste Schicht hätte jetzt beginnen sollen, doch ich nahm keine neuen Fahrgäste an. Ich fuhr einfach ziellos durch die Straßen – völlig versunken in meinen Gedanken. Ich wollte weder reden, noch jemanden sehen. Was wäre gewesen, wenn die Frau an einen unfreundlichen und mies gelaunten Kollegen geraten wäre, der nur schnell seine Schicht hätte beenden wollen? Was wäre, wenn ich die Fahrt nicht angenommen hätte? Was wäre, wenn ich nach dem ersten Hupen einfach weggefahren wäre?

Wenn ich an diese Fahrt zurück denke, glaube ich, dass ich noch niemals etwas Wichtigeres in meinem Leben getan habe.

 

In meinem viel zu hektischen Leben legte ich bislang immer besonders viel wert auf die großen, bombastischen Momente. Größer. Höher. Schneller. Weiter...

 

Jetzt weiß ich:

Es sind viel mehr die kleinen Momente, die kleinen Gesten, die im Leben wirklich etwas zählen. Wenn man sein Herz öffnet. Für diese kleinen und schönen Momente. Dafür sollte ich mir wieder mehr Zeit nehmen. Ich sollte wieder mehr Rücksicht auf andere nehmen und Geduld haben mit den Menschen – und nicht sofort hupen – dann sehe ich es auch: Das, was wirklich zählt."

 

Autor unbekannt

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Thomas (Sonntag, 11 Februar 2024 17:25)

    Sehr tief bewegende Story, lieber Jörg. Danke.